Vorausschauend und selbstbestimmt
Was ist Autonomie? In der Intralogistik geht es dabei vor allem darum, dass Fahrzeuge mit unvorhergesehenen Situationen umgehen können. Ein grundlegend anderer Anspruch als in der klassischen Automatisierung, wo Geräte zwar selbstständig, aber in berechenbaren Situationen handeln.
Man kann sich die Realität nicht aussuchen. Denn diese sieht so aus: Nur etwa fünf Prozent der Lagerflächen entstehen in neugebauten Hallen, auf der sprichwörtlichen „grünen Wiese“, wo sich alles im Voraus so planen lässt, dass es ideal auf die Arbeitsprozesse zugeschnitten ist. Der Großteil der Warenlager ist aber kein „Greenfield“, sondern ein „Brownfield“, also eine bereits bestehende Situation, in die neue Prozesse integriert werden müssen. Das hat Auswirkungen, zum Beispiel, wenn es um Automatisierung geht.
Autonomie unterscheidet sich je nach Branche
Automatisierung, das ist die Zukunft – davon sind die Werksleiter überzeugt: STILL hatte vor etwa zwei Jahren die eigenen Kunden befragt, und mehr als die Hälfte gab an, dass schon 2025 „mehr als 60 Prozent“ ihrer Prozesse automatisiert sein sollen, etwa ein Viertel wollte sie sogar komplett automatisieren. Ambitionierte Pläne, insbesondere angesichts der Tatsache, dass gleichzeitig wiederum mehr als die Hälfte der Befragten angab, bislang sei noch kein einziger automatisierter Prozess bei ihnen vorhanden. Die Antworten unterstreichen jedoch, als wie wichtig viele das Thema ansehen und wie viel sie sich davon erhoffen.
Gerade angesichts der Erwartungshaltung verschwimmt teilweise die Definition: Was genau sind Automatisierung und Autonomie, wo liegen die Unterschiede? Die Frage ist nicht trivial, weil die Antwort tatsächlich vom Einsatzfeld abhängt. Für den Bereich Automobil zum Beispiel existiert eine Skala, die in Stufen unterscheidet zwischen „Fahrer braucht keine Füße, Fahrzeug kann alleine beschleunigen und bremsen“ (Stufe 2) oder „Fahrer muss in bestimmten Bereichen nicht mehr auf die Straße schauen“ (Stufe 4). Nur: Wie sinnvoll lässt sich eine solche Skala auf autonome Roboter im Lager übertragen, die komplett andere Herausforderungen haben als Fahrzeuge im Straßenverkehr? Der Fachausschuss für Autonome Transportfahrzeuge des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) hat Ende 2021 einen Vorschlag für sinnvolle Kriterien vorgelegt.
Im Warenlager kommt es auf Zentimeter an
Darin enthalten: zehn Funktionen, anhand derer sich eine Skala aufstellen ließe, wie autonom ein „Automated Guided Vehicle“ (AGV) handelt. Kann es sich auf einer freien Fläche selbstständig orientieren? Wie gut umfährt es Hindernisse? Wie exakt kann es seine Ladung in ein Regal einräumen? Hier wird besonders deutlich, welche Rolle die Branche bei der Definition der Autonomie spielt: Bei einem autonomen Auto ist es eher zweitrangig, ob das Fahrzeug einem vorausfahrenden Auto in exakt gleichbleibendem Abstand folgt – die Distanzen im Straßenverkehr sind großzügiger. In der Intralogistik hingegen kommt es auf Zentimeter, oft sogar auf Millimeter an, wenn zum Beispiel ein Roboter vor einem Regal steht, um ein- oder auszulagern. Für einen autonomen Pflegeroboter wiederum wäre es entscheidend, dass er mit hilfsbedürftigen Menschen kommunizieren kann. Im Warenlager ist die Kommunikation mit Menschen ein Bonus, aber nicht zwangsläufig Voraussetzung für autonomes Handeln.
Und hier kommt das „Brownfield“ ins Spiel, die Realität in den Lagern, in denen häufig Menschen umherlaufen, Paletten nicht am richtigen Ort stehen oder andere Unwägbarkeiten Teil des Alltags sind. Autonomie in einem solchen Umfeld bedeutet, dass ein AGV möglichst vorausschauend und selbstbestimmt mit unvorhergesehenen Situationen umgehen kann. „Ein smarter Roboter nimmt permanent seine Umgebung wahr und passt sein eigenes Verhalten seinen Erkenntnissen an“, sagt Volker Viereck, Head of Intelligent Autonomous Software Development, der sich gemeinsam mit seinem Team dem Themenkomplex intelligenter, autonomer Roboter widmet und diesen immer weiter vorantreibt. Das kann auf unterschiedlichen Wegen funktionieren: Ein Roboter kann mit unvorhergesehenen Situationen reaktiv umgehen, also nach links fahren, wenn rechts ein Hindernis steht, und nach rechts fahren, wenn es links eng wird. Er kann sogar all sein Wissen nutzen, um abwägen zu können, welches Verhalten für die aktuelle Situation das optimale wäre, und sich dann selbst dafür entscheiden.
Wenn das Gerät im Vorfeld plant und Optionen umsetzt
Das passende Beispiel wäre ein Stapler, der ohne fremde Hilfe feststellen kann, dass er ein paar Zentimeter zu weit links vor dem Regal steht, um seine Ladung aufnehmen zu können, und der dies anschließend korrigiert. „Effizienter allerdings wäre er vermutlich, wenn er schon während des Anfahrtswegs merkt, dass sein Ziel leicht versetzt steht, und er das im Vorfeld korrigiert“, erklärt Harald Bergermann, Head of Solutions Design. Seit 34 Jahren beschäftigt er sich mit AGV, im Herzen dabei immer „zwischen Innovation und Realität“, wie er sagt. Schließlich kann ein autonomes Lagergerät bei einem Hindernis nicht einfach nur abstoppen, sondern eine Vielzahl von Informationen nutzen, um die bestmögliche Lösung zu finden. Dazu sollte es idealerweise auch erkennen können: Ist das Hindernis ein Mensch? Kann es also hupen und warten, bis die Person zur Seite tritt?
Sensoren und Software sind mittlerweile auf einem technischen Stand, der solche Entscheidungen erlaubt: Mithilfe verschiedener Sensoren, unter anderem auch 3D-Kameras, erkennen Fahrzeuge ihr Umfeld, so wie der automatisierte MX-X Schmalgangstapler von STILL.
„Hinzu kommen permanent weiterentwickelte KI-Lösungen, sodass verschiedene Systeme sich auch untereinander abstimmen und koordinieren können“, sagt Viereck. Er hatte mit seinem Team auch schon das erste autonome Fahrzeug für STILL entwickelt – den Kommissionierer „iGo neo“,der permanent mit dem ihn begleitenden Menschen kooperiert.
Automatisierung und Autonomie haben jeweils ihre Stärken
An diesem Punkt liegt auch der entscheidende Unterschied der Autonomie zur klassischen Automatisierung, die lange Zeit die Prozesse geprägt hat: Automatisierte Fahrzeuge können sich exakt auf zuvor festgelegten Strecken bewegen – sie können aber nicht auf Unvorhergesehenes reagieren. Ein automatisiertes Lagergerät, das auf seiner eigenen Spur durch das Lager fährt, ist ideal geeignet für die eingangs erwähnten Situationen „auf der grünen Wiese“: also innerhalb von Umgebungen, die so auf den Einsatz der Fahrzeuge ausgerichtet sind, dass diese ungestört und ohne ungeplante Ereignisse ihre Aufträge abarbeiten können. In solchen Idealsituationen können Fahrzeuge, deren Autonomiegrad eher gering ist, sogar effizienter sein: Denn autonome Fahrzeuge sind demgegenüber zwar intelligent genug, um bei Hindernissen ihre Idealroute zu verlassen – dies kostet jedoch Zeit. „Der Kunde kann sich entscheiden“, unterstreicht Viereck: „Möchte ich besonders viel Durchsatz und idealisiere meine Welt – oder brauche ich Systeme, die mit allem umgehen können, muss dafür aber nicht das Geld ausgeben, um eine neue Halle zu bauen?“ Dieser Spielraum sei für viele Kunden sehr attraktiv, und obendrein seien selbstverständlich auch Mischformen möglich.
Gleichzeitig aber brauche es gerade auf diesem Gebiet auch den Schulterschluss von Kunden und Herstellern, um idealerweise gemeinsam die attraktivsten Anwendungsfälle zu entwickeln. Während die Automobilindustrie mit ihren hohen Stückzahlen im Millionenbereich neue Funktionen leichter in die Kosten integrieren kann, ist die Intralogistik davon abhängig, dass Kunden einen klaren finanziellen Mehrwert mit ihren autonomen Fahrzeugen generieren. Sowohl Bergermann als auch Viereck aber sind überzeugt davon, dass dies sehr zeitnah Realität werden wird. Autonomie ist keine ferne Zukunftstechnologie mehr, sondern bereits möglich. „Es gibt eine unglaubliche Existenzberechtigung für autonome Roboter“, sagt Viereck. „Die Anfänge sind überall da“, fügt Bergermann hinzu: „Mithilfe der Autonomie werden sich auch ganz neue Wirtschaftsmodelle etablieren.“
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